Gerechtigkeit – was ist das eigentlich?

Generationen von Philosophen haben sich damit auseinandergesetzt. Ihr Denkerergebnis: Es gibt keine Formel, die es nur anzuwenden gelte – und dann entsteht automatisch Gerechtigkeit. Und wie bekommt man überhaupt die Begriffe Recht, Gerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit auseinander? Rechtsstaatlichkeit bedeutet keineswegs Gerechtigkeit, denn es gibt auch Recht in Diktaturen, das also tatsächlich Unrecht ist. Andererseits braucht man Recht, um Gerechtigkeit umzusetzen. Recht kann nämlich sehr wohl verhindern, dass sich das primitive „Recht des Stärkeren“ durchsetzt. Deshalb ist Deutschland ein Sozialstaat, der einen Ausgleich zwischen Reichen und Armen vorsieht. Und Gerechtigkeit, die nur um sich selber kreist, kann sehr schnell in Selbstgerechtigkeit ausarten, die auch niemand will.

Wie handelt man gerecht? Immanuel Kant, der große deutsche Philosoph, hat seine Antwort auf diese Frage in zwei Sätze gefasst: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Und weiter: Man solle Menschen nie nur als Mittel sehen, sondern auch als Zweck. Als „kategorischer Imperativ“ ging das in die Weltgeschichte ein. Zum ersten Satz gehört folgende Frage: „Stell dir vor, alle würden so handeln wie du? Was wären die Folgen?“

Ich will das am Beispiel Tarifflucht und Lohndumping einmal verdeutlichen. Würden alle Firmenchefs ab morgen die Hälfte des Lohnes streichen, würde es allen bald ziemlich schlecht gehen, weil dann nämlich Millionen Menschen kein Geld mehr für ein auskömmliches Leben hätten. Die Gesellschaft würde früher oder später kollabieren; und auch die Wirtschaft würde zusammenbrechen, weil die arm gemachten Menschen nur noch Billigprodukte kaufen könnten.

Zum zweiten Teil der Antwort von Kant: Menschen sind kein Mittel zum Zweck, sondern sie haben eine „Würde“, die es unter allen Umständen zu respektieren gilt. Deshalb ist die Menschenwürde der fundamentale Wert unserer politischen Grundordnung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Es heißt im Grundgesetz nicht: „Die Gewinnmaximierung ist unantastbar.“ Auch Wirtschaft hat sich dieser normativen Schranke zu beugen. Anderenfalls wären alle Menschen zur Ausbeutung freigegeben – und damit bloß Mittel zum Zweck.

Gerechtigkeit ist wenigstens seit der Neuzeit eine regulative Idee, auf die keine Gesellschaft verzichten kann, die sich um Gemeinwohl bemüht. Bundespräsident Christian Wulff hat in Leipzig zum Auftakt des Ver.di-Bundeskongresses sehr deutlich die positive Rolle der Gewerkschaften hervorgehoben: „Unser Land wäre ohne Gewerkschaften materiell ärmer, aber auch an Gemeinsinn und Engagement.“ Die Botschaft dahinter: Ohne Tarifverträge gibt es keine gerechte Aushandlung von Löhnen und Arbeitsbedingungen. Eine Seite, nämlich der Arbeitgeber, würde dann den Wert der Arbeit einseitig bestimmen. Mit anderen Worten: Willkür herrscht; das wäre das genaue Gegenteil von Gerechtigkeit. Wer seine Macht ausspielt, ist nicht an Dialog und Zustimmung der anderen interessiert, was jedoch eine unerlässliche Bedingung für Gerechtigkeit ist. Gerechtigkeit ist somit das aufrichtige Bemühen, Lösungen zu finden, die von allen Beteiligten „mit gutem Gewissen“ angenommen werden können. Es geht um die Bereitschaft, andere auch „angemessen“ zum Zuge kommen zu lassen. Gerechtigkeit stellt man also nicht her, indem man einseitig seinen Willen durchsetzt. „Es soll nicht darum gehen, nach dem Prinzip der Stärke, des Mächtigen zu handeln, sondern nach Werten, auf ethischer Grundlage, nach dem Prinzip der Menschenwürde, dem höchsten Wert unserer Verfassung“, sagt der oberste Richter Baden-Württembergs, Eberhard Stilz, über die Architektur unserer Nachkriegs-Gesellschaft (Quelle: trott war, „Gerechtigkeit“, Ausgabe 8-9/11, S. 27-29). Bei Gerechtigkeit geht es also um die Selbstverpflichtung aller maßgeblichen Akteure der Gesellschaft, nicht nur den eigenen Interessen zu folgen, sondern stets auch das Ganze im Auge zu behalten. Die Summe aller Egoismen ist nämlich nicht das Gemeinwohl, sondern Hauen und Stechen.

Gerechtigkeit ist aber nicht nur materielle Verteilungsgerechtigkeit, die in unserer Gesellschaft bisher eine große Rolle spielte und als Sozialstaatsprinzip Verfassungsrang genießt. Sie ist weit mehr als das, nämlich eine Geisteshaltung. Demokratie ist ja auch mehr als nur ein Wahlmodus. Gerechtigkeit weist stets über das Ego des Einzelnen hinaus. Sie beruht auf der Überzeugung, dass der Einzelne nicht alleine auf die Welt ist und folglich Rücksichten genommen werden müssen – insbesondere auf Mitmenschen. Gerechtigkeit verlangt demnach die Fähigkeit, sich selber im Zusammenhang mit den anderen in einer Lebens- und Wertegemeinschaft wahrzunehmen und seine Mitbürger grundsätzlich mit Respekt und Wertschätzung zu behandeln. Wer dazu außerstande oder nichts willens ist, kann anderen Menschen auch nicht wirklich gerecht werden. Dazu gehört immer das aufrichtige Bemühen, sie und ihr Anliegen, sei es begründet oder nicht, ernst zu nehmen und ihnen lautere Absichten zu unterstellen. Sie zum Objekt der Ausbeutung zu machen verstößt gegen Kants Diktum, den Menschen niemals nur als Mittel zum Zweck zu sehen.

Gerechtigkeit verlangt die Überwindung der eigenen Subjektivität. Die ethische Leitformel für den Einzelnen lautet dabei: „Wie kann ich einen Zustand, der mir selbst höchst unangenehm wäre, anderen aufbürden?“ Noch einmal anders formuliert, heißt dann die Maxime: „Behandle deine Mitmenschen so, wie du selber behandelt werden möchtest.“ Im Prinzip ist das auch eine Kernbotschaft aller Weltreligionen gewesen. Man darf Menschen keine Lebensumstände aufzwingen, die ich selber unerträglich finden würde. Zum Beispiel das Lohndumping. Wer das dennoch tut, handelt nicht gerecht. Er schert sich keinen Deut um seine Mitmenschen und das Gemeinwohl.

Das selbstherrliche und jegliche Wertemaßstäbe vermissen lassende Gebaren Einzelner in den Führungsetagen führt zum vielbeklagten Werteverlust in unserer Gesellschaft“, schrieb der Vorsitzende Richter Richard Caspar in sein Urteil zum Siemens-Korruptionsprozess. Das war 2008. Das ist eine ganz bemerkenswerte Aussage eines Juristen zur inneren Verfassung unserer Gesellschaft. Eine Schelte an die Adresse der Eliten. Auch anderen Managern und Geschäftsführern scheint der Gerechtigkeitssinn abhanden gekommen zu sein, dabei ist er konstitutiver Teil unserer Natur, ein Grundbedürfnis sogar. Wir Menschen fragen unentwegt danach – von Kindesbeinen an. Mit etwa sieben Jahren ist der Gerechtigkeitssinn ausgeprägt. Seltsam nur: Bei einigen Zeitgenossen kann man den Eindruck gewinnen, dass er sich im Verlauf des Lebens zurück bildet…

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2 Antworten auf Gerechtigkeit – was ist das eigentlich?

  1. Ulla Frank sagt:

    Wohl wahr – leider. Mir als Optimist gefällt vor allem der letzte Absatz der Ausführung nicht – noch hoffe ich auf das angesprochene Grundbedürfnis „Gerechtigkeit“. Ich sitze hier und grüble über die Hauptanliegen unserer „Manager“, die sich mir nicht erschließen wollen.
    Vielleicht gibt es Gründe, dieses Szenario ab 2014 für die jetzigen Angestellten und ab sofort für die Neueinstellungen zu entwerfen. Wäre ich Firmenchef würde ich diese Gründe allen Mitarbeitern detailliert aufzeigen, auf einen Teil meines eigenen Einkommens zum Firmenwohl verzichten. Die Führungsebene verschlanken. Ein Zeichen setzen, bei mir selbst anfangen und meine Angestellten mitnehmen. Momentan basieren die durchgeführten Maßnahmen auf dem Machtprinzip. Mir bleibt nur die Hoffnung. Hoffnung, dass ein Weg gefunden wird, die Interessen zu beiderseitigem Nutzen zusammenzubringen. Nur sollten wir Ihre Interessen, liebe Gegenseite, ersteinmal verstehen können.

  2. hgs sagt:

    Seit 1989 wird das Klima für die Beschäftigten jedes Jahr härter. Ich sehe als Hauptgrund neben der Konkurenz durch Globalisierung – viele Bereiche wie Dienstleistungen, Zeitungen etc haben diese Konkurrenz jedoch gar nicht – dass die Systemalternative weggefallen ist.
    Mit anderen Worten: Jetzt haben die „oben“ keine Angst mehr davor, dass die „unten“ womöglich folgendes wollen: Großkonzerne verstaatlichen, Reiche teilweise enteignen und eine andere Verteilungdes Reichtums, gar an ein anderes Gesellschaftssystem denken.
    Wobe ich damit auf kenen Fall sagen will, dass es im Ostblock gut oder gar besser als im Kapitalismus in Westeuropa war.

    Was mir – ich bin Kollege – auch auffällt: Die Führengsspitze in den Verlagen predigt Wasser und trinkt Wein. Mit anderen Worten: Das eigene Konto wird jeden Monat mit dem üppigen Gehalt prall gefüllt, es gibt selbstverständlich für sich selbst eine soziale Absicherung, einen unbefristeten Vertrag, gar einen Dienstwagen und weitere Nettigkeiten. Und auf der anderen Seite selbstverständlich keinen Wochenenddienst, fast keine Abendtermine. Und ich glaube mittlerweile auch, dass viele dieser Topverdiener nicht besonders fleißig sind: Bei unserem Verlag brennt im Bürotrakt des Managements ab 18.30 Uhr kein Licht mehr…

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